Genau so viele Anläufe brauchte ich, um diese nicht nur landschaftlich überragende Runde um den höchsten Berg Südtirols - den Ortler – zu fahren. Dieser Ultraradmarathon führt von Meran aus über die Traumpässe
--- Stilfser Joch,
--- Passo Gavia,
--- Passo Tonale und
--- Passo Palade

wieder nach Meran, wo dann etwa
--- 250km und
--- 5.500 Höhenmeter

bewältigt sind. Je zwei Male machten mir wahlweise das Wetter oder die Absage von Begleitern einen Strich durch die Rechnung, so dass ich in diesem Jahr alleine den Versuch wagte. Und das im Rahmen der vom SD Athletic Club Meran alljährlich im Juli organisierten      Tour d’Ortles.   Für unglaublich günstige 20,00 EUR ist man/frau dabei und erhält zusätzlich zur fantastischen Organisation und vier Kontroll- und Verpflegungsstellen jeweils auf den Passhöhen eine große Portion Pasta am Ziel, ein T-Shirt und ein Tuch jeweils im Tour d’Ortles Look. Doch dazu später mehr.

„Meteo o.k.“ lautete die letzte Nachricht des Cheforganisators Giancarlo. Also machte ich mich kurzentschlossen mit einem Zwischenstopp in Nauders auf den Weg nach Meran. Freitags habe ich mich locker auf meinem Lieblingshügel Passo Mendola eingefahren, so dass physisch alles für die große Runde gerichtet war. Auch psychisch war die Euphorie nach dem WM-Viertelfinalsieg gegen Frankreich groß… bis ich samstags um 3:55 nicht nur von meinem Wecker, sondern auch von prasselndem Regen auf das Dachfenster meines Hotelzimmers geweckt worden bin. Das kann doch alles nicht war sein, dachte ich und zweifelte, ob es nicht schlauer wäre, die Bettdecke wieder über den Kopf zu ziehen. Immerhin sollte es bis auf eine Höhe von 2.758m gehen; das könnte eine ziemlich nasskalte und unangenehme Angelegenheit werden. Ein Blick in den Wetterradar der Provinz Bozen zeigte jedoch eine sehr begrenzte Schaueraktivität über der Region Meran und so entschied ich mich, von meinem Hotel in Lana die wenigen Kilometer nach Meran zu fahren und am Start die Stimmung abzufangen. Als ich gegen 4:45 an der Meranarena ankam herrschte dort schon reges Treiben, aber der Regen wurde heftiger. Die raren trockenen Plätze unter den Orgazelten waren heiß begehrt. Je näher doch die Startzeit 5:30 rückte, so kleiner und seltener wurden die zum Glück wenigstens 19°C warmen Tropfen. Nur 200 Starter sind zugelassen, davon ein paar Plätze ausschließlich für Ausländer reserviert und einen davon mit der Nummer 092 hatte ich ergattert. Ich kannte zwar den größten Teil der Strecke und hatte mein Wunschdrehbuch im Kopf, jedoch wusste ich nichts über die Ausprägung und Qualität der Organisation einer italienischen RTF. Und so plante ich, die nächsten 250km völlig auf mich alleine gestellt zu sein: 3 Riegel, 4 Gels und 1 Banane sollten mich über den ersten Teil der Strecke bringen, den Rest plante ich im Zweifel einzukaufen. Zusätzlich war ich mit zwei paar Armlingen, einer Dreiviertelhose und langen Handschuhen in den Trikottaschen für das zu erwartende Temperaturgefälle zwischen 0 und 30° C gerüstet. Bereist bei der Abholung meiner Unterlagen wurde ich bereist positiv überrascht, denn am Start hatte man bereits die Gelegenheit für die beiden höchsten Pässe Kleiderbeutel abzugeben. Hier erwies sich vielmehr das Sprachgewirr aus Italienisch und Deutsch als lustige Herausforderung, jedoch klappte es mit meinen paar Brocken Italienisch und Händen und Füßen ganz ordentlich. Ordentlich war auch die italienische Dokumentation. Fein säuberlich wurde auf jeder Startkarte die Startzeit markiert.

Am STart in Merano (Copyright by Giancarlo Concin, ITA)

Mit einer kleinen wetterbedingten Verspätung ging es dann gegen 5:45 im Gruppetto los. Gleich nach dem Verlassen Merans wartete der Anstieg auf dem Radweg zur Töll, der wegen der Kehren und den Steigungsspitzen bis 14% bei den Einheimischen auch das kleine Stilfser Joch genannt wird, mit etwa 200hm auf uns. Mein persönliches Drehbuch sah vor, die ersten 55km bis zum Fuße des Stilfser Jochs den Windschatten des Gruppettos zu nutzen und so wertvolle Kräfte im windigen Vinschgau zu sparen. Dazu musste ich jedoch gleich an der Töll ans Limit gehen, um den Anschluss nicht zu verpassen. Zum Glück ließen es die italienischen Jungs ruhig angehen, so dass ich im Feld blieb. An meinem dreckverschmierten Gesicht sah man, wo ich mich in dieser Phase bevorzugt aufhielt – am Hinterrad meines Vordermanns. Am nächsten Anstieg nach Laas zog sich das Feld dann erstmals auseinander, aber wieder hatte ich ein Hinterrad eines weiteren Italieners erwischt. Die geschlossene Schranke am Kreisverkehr in Spondinig ließ uns allen ein wenig Zeit zu einer letzten Biopause und dem Auftanken der Kraftreserven vor der ersten echten Hürde des Tages, dem Stilfser Joch. Richtungspfeile wie bei klassischen RTFs gab es übrigens kaum und sie waren auch nicht nötig, denn die Strecke war über das Roadbook eindeutig beschrieben. So viele Wege führen nicht um den Ortler herum… In Prad angekommen trennte sich dann wie erwartet das Feld und ich nahm das Tempo raus. Zu viel Respekt hatte ich vor dem Rest des Tages. Petrus zeigte sich von einer wechselhaften Seite. Unten schien die Sonne, aber auch viele Wolkenfetzen hielten sich im dichten Tal. Doch für mich das Wichtigste war der Wind, der nicht wehte. Und so pedalierte ich gemütlich und konzentriert, immer wieder von der hochalpinen Kulisse mit quiekenden Murmeltieren, die auch mal über die Straße und elegant über die Kehrenbegrenzungen hüpften, fasziniert über die zahlreichen Kehren Höhenmeter für Höhenmeter hinauf. Immer wieder wurde ich von flinken Radlern überholt und mit einem freundlichen Ciao begrüßt, doch das störte mich nicht. Denn es war mein Rennen gegen mich selbst, welches ich gewinnen wollte und kein anderes. In etwa 2:15 erreichte ich dann mit Hilfe meines ersten Gels gegen 10:15 den Kontrolltisch, wo ich superfreundlich begrüßt wurde. Hier war schon geschäftiges Treiben und ich war glücklich, ordentlich in der Zeit zu liegen, denn um 11:00 wäre hier Kontrollschluss gewesen
.
Am Stilfser Joch (Copyright by Giancarlo Concin)


Kurz vor der Passhöhe Stelvio (Copyright by Giancarlo Concin)
Die netten Kontrollmenschen dokumentierten wieder ordentlich auf Startkarte und in ihrer Liste meine Startnummer und Zeit, während andere mich mit Bananen, Keksen und Wasser mit Pulver verwöhnten. Zusätzlich hätte es auch Cola gegeben, die ich mir aber für später aufheben wollte. Also schnell Windjacke und Handschuhe an und vorsichtig nach fünf Minuten Pause über eine trockene Straße runter nach Bormio. Auch dort kannte ich mich gut aus und fand schnell die richtige Abzweigung nach Santa Katharina. Schnell wieder Jacke und Handschuhe im Trikot verstaut und nach knapp 100 geschafften km auf in den zweiten Anstieg des Tages. Eine italienische Hochzeit, reges Dorfleben in den zu passierenden Orten und der rauschende Bach tief unten neben der Straße machten die ersten 500hm zu einer recht kurzweiligen Angelegenheit. In Santa Katharina war es Zeit für die vierte Banane des Tages. Hier war es schon sehr einsam. Immer seltener begegnete ich anderen Radlern, nur die Anzahl der Motorradtouristen ließ nicht nach. Auf also in meinen Lieblingspass, der sich trotz vereinzelter Regentropfen vielfach in sonnigem Gemüt zeigte. Die aufkommende Kälte merkte ich dank meines zweiten Gels und der immer wieder auftretenden Steigungsspitzen nicht wirklich. Auch dieser Pass lief recht rund, nur am letzten Steilstück konnte ich mir das Beißen nicht verkneifen. Da hilft, wenn man weiß, das die restlichen zwei Kilometer recht flach sind, so dass ich von der verbleibenden Wegstrecke immer 2km abgezogen habe. Um 13:10 erreichte ich dann schließlich die Passhöhe und die begeisternden Herren mit dicken Pudelmützen am Kontrolltisch.





Wie auch am Stilfser Joch wurde meine Ankunft mit einem Foto verewigt und ich von den lieben Kontrollmenschen mit Pulverwasser, Bananen und Keksen verwöhnt. Das Shakern mit meinen Italienischfetzen machten denen sichtlich Spaß und mir auch, bis ich mich mit einem Grazie und Ciao in die ungemütlichste Abfahrt auf einer sehr unebenen und engen Straße ins Tal nach Ponte di Legno aufmachte. Hier war auch mit 125km und 3.800hm mehr als die Hälfte geschafft und zugleich begann für mich der unbekannte Teil der Strecke, den ich nur aus dem Auto heraus kannte, denn vor drei Jahren hatten wir auf dem Gavia im Schnee aufgeben müssen.

 

Nach einer gefühlten und recht kalten Ewigkeit, aber vielen netten grüßenden Aufwärtsradlern erreichte ich endlich den Ortsrand von Ponte di Legno, um nach dem obligatorischen Jacke verstauen mich in den dritten Anstieg zu wagen. Hier überholte mich in einem rasenden Tempo ein Zug aus drei Radlern, dem ich nur bewundert nachschauen konnte, aber dann waren sie mir auch schon enteilt. Also kraxelte ich weiter und merkte zunehmend meine mittlerweile schweren Beine. Der Passo Tonale ist ein schwer einzusehender Pass, der einen die Distanz bis zur Passhöhe kaum einschätzen lässt. Aber irgendwann hatte auch ich die weiteren 600hm geschafft und erreichte gegen 14:45 im Sonnenschein die Pforte ins Val di Sol. Wie Ihr Euch sicher schon denken konnte, traf ich auch hier wieder auf äußerst hilfsbereite und begeisterte Kontrollmenschen, die meinen knurrenden Magen mit einer Kiste voller einheimischer Süßkirschen verwöhnten. Endlich etwas anders als Bananen, am liebsten hätte ich die roten Früchte auf meinem nicht vorhandenenGepäckträger montiert. Hier traf ich auch wieder auf den Zug, der mich noch überholt hatte und die Kontrollmenschen überredeten die drei Jungs, mich runter durch’s Val di Sol mitzunehmen („da fährst Du jetzt mit“). Also rauf auf’s Rad und weiter. Die Jungs legten ein Höllentempo vor und aufgrund der oben engen Kurven siegte die Vernunft – ich ließ abreißen. Das war ein Fehler, ein großer. Denn fortan kämpfte ich im heftigen Gegenwind und es fing auch wieder an zu regnen. Zum Glück nur ein Schauer. Obwohl es bergab ging, schienen die mir entgegenkommenden Radler flotter zu sein. Nicht gut für den Kopf. Immer wieder drehte ich mich um, aber es wollte einfach niemand von hinten kommen. Fast verzweifelt schaute ich auf die blauen Entfernungsschilder und freute mich über jedem geschafften Kilometer. Etwa 5km kam dann doch noch ein roter Dreierzug von hinten, der mich mitnahm und mit denen ich mich fleißig im Wind abwechselte. Damit war km 194 erreicht und es wartete der letzte einfache, aber lange Anstieg auf das Gampenjoch. Ein Pass, den ich gar nicht mag. Aber das nahe Ziel entschädigte für viel. Ich trennte mich von der Gruppe, ließ sie fahren und versucht, so entspannt wie möglich hinaufzutreten. Mittlerweile brannte die Sonne auf die Straße, aber an Wasser mangelte es nicht. Das ist eines der tollen Dinge an Italien, in jedem Dorf gibt es mindestens einen Brunnen und wo die in Südtirol zu finden sind, habe ich gelernt. Also Tritt für Tritt hinauf. Langsam hatte ich richtig Hunger. Da kam mein Müsliriegel, der an meine Sitzstange getapt war, gerade recht. Denn von Bananen hatte ich an diesem Tag einfach genug. Der Anstieg zog sich und zog sich. Erstes Zwischenziel war für mich Fondo und bis dahin waren die Steigungsspitzen auch am fiesesten, aber das dauerte. Obwohl das Ziel immer näher rückte, war es für mich unglaublich weit weg. Denn ich konnte einfach nicht fassen, dass ich so nah an diesem Traum dran war. Selbst wenn jetzt etwas kaputt ginge, die Chance es selbständig ins Ziel zu schaffen, wurde größer. Zeitweise kullerte die ein oder andere Träne über mein dreckverschmiertes Gesicht, doch weder vor Schmerz noch Trauer, sondern vor Begeisterung über diese tolle Organisation, die traumhafte Landschaft und auch ein bisschen vor Stolz auf mich selbst. 3km noch bis zur Passhöhe und ich zählte im 100m Abstand rückwärts: 30, 29…10, 9...4 – wieder auf das große Blatt geschaltet und im Wiegetritt die letzten Meter – GESCHAFFT.





Von jetzt also nur bergab. Doch stieg ich vom Rad, holte mir den letzten Stempel und atmete es mit einem tiefen Puh durch, bis ich ein langegezogenes Ciao, Buona sera rausbekam. Wieder gab es reichlich begeisterndes Kontrollpersonal, das mir gleich einen Becher Cola reichte und mich mit dem letzten Schokokeks meiner Tour verwöhnte. Kurz noch etwas Wasser und dann stürzte ich mich mit den mahnenden Worten „Lass Dir Zeit“ in die Hochgeschwindigkeitsabfahrt nach Lana. Und es lief zügiger als ich erwartet hatte und es machte sogar richtig Spaß. Dennoch blieb ich zu jedem Zeitpunkt konzentriert. Bloß keinen Fehler machen, nicht jetzt. Brav vor den teilweise gepflasterten Tunneln abbremsen. Und wieder hatte ich Glück. Auch diese Abfahrt war trocken. Unten am Kreisverkehr in Lana angekommen, war ich selig. Noch sechs Kilometer, meine Hausstrecke, die ich schon so oft gefahren bin leicht bergab über Tscherms und Marling (zum Glück ohne den Marlinger Berg noch einmal rauf zu müssen) die MeBo überquerend an der Pferderennbahn entlang und die letzten Meter auf dem Radweg ins Ziel. Ab Lana führten mich dann auch die gelben Richtungspfeile. Done, well done, dachte ich mir, als ich um 18.46 Uhr nach 13 Stunden und einer Minute als eine von insgesamt 90 Finishern (davon nur 6 Mädels) wieder Meran erreichte. Sicher weit weg von einer Topzeit, aber für 200km Alleinfahrt war ich einfach nur happy. Am letzten Kontrolltisch erhielt ich dann mein Finishershirt, mein „Diplom“ und als Sahnehäubchen ein Wimpel des ASD Meran mit Widmung von Giancarlo. Einfach liebenswert. Im Garten des Clubcafés ließ ich dann bei einer großen Portion Pasta den Abend gemeinsam mit einem Oberpfälzer Mitradler, der mich auf der Abfahrt vom Gavia überholt hatte, dieses Abenteuer Revue passieren. Toll, einfach toll und ein riesengroßes Lob an den Veranstalterverein und das radbegeisterte, unglaublich hilfsbereite Team. Meine Ausrüstung hat auch perfekt gepasst: ich habe zu keinem Zeitpunkt gefroren, mein 32er Ritzel hat mich brav jedes zweistellige Steigungsprozent hinauf gebracht und auch die Verpflegung hat mehr als ausgereicht.

Arrivederci al prossimo anno e complimenti vivissimi all’impeccabile organizzazione curata dallo staff dell’Athletic Club Merano!!!

Elke



Alle Fotos: Copyright by Giancarlo Concin (ITA) / ASD Meran

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